Kommentare auf Glas: Projekt von Ruairí O’Brien im Jahr 2000
Baustelle Deutsche Einheit
Text: Maria-Gabriele von Glasenapp
Innenpolitische Entwicklung seit 1990
Der Fall der Mauer 1989 und die Wiedervereinigung 1990 erfolgen unter meist großem Jubel. Die „äußere“ Einheit ist schnell vollzogen. In nur wenigen Monaten erstreiten die Bürgerrechtler und die Demonstranten auf den Straßen die Ablösung des SED-Regimes. Die erste frei gewählte Regierung der DDR bereitet den Beitritt zur Bundesrepublik vor.
Zügig sind die staatlichen Strukturen der DDR bis zum Tag der Einheit am 3. Oktober 1990 aufgelöst und beide deutsche Teilstaaten vereint. Die Herstellung der „inneren“ Einheit dauert hingegen länger. Die Erwartungen an einen schnellen Wirtschaftsaufschwung und die Angleichung des Lebensstandards sind bei den Menschen in den neuen Bundesländern hoch. Aber die Umstellung von Plan- auf Marktwirtschaft, die gesellschaftlichen und persönlichen Herausforderungen sind weitaus schwieriger als vermutet. Nach dem Ende der SED-Diktatur wird deutlich, wie marode die DDR-Wirtschaft in Wirklichkeit war: heruntergewirtschaftete Industrieanlagen, ineffiziente Produktionsprozesse, Umweltverschmutzung, personelle Überbesetzung und unattraktive Produkte. Die wenigsten Betriebe im Osten können mit westlichen Unternehmen konkurrieren. Die industrielle Produktion in Ostdeutschland bricht ein, viele Betriebe schließen, Massenarbeitslosigkeit ist die Folge. Das erhoffte Wirtschaftswachstum bleibt aus, eine Tatsache, die es vielen erschwert, das westliche System zu akzeptieren. Auf Begeisterung folgt auch Ernüchterung.
„Unterwegs im Beitrittsgebiet“
Die Fotoreportage des Schriftstellers Michael Rutschky zeichnet ein eindrucksvolles Stimmungsbild von den neuen Bundesländern. Seine Momentaufnahmen stammen von drei Reisen: im November 1989, im November 1991 und im Sommer 1993. Verlassene Geschäfte, verfallene Gebäude und Menschen, die durchs Bild huschen, erwecken zunächst einen Eindruck von Trostlosigkeit. Bei genauerem Betrachten fallen die allmählich einsetzenden Veränderungen auf. Die Sanierung der Innenstädte, der Ausbau von Straßen und der Aufbau eines modernen Telekommunikationsnetzes schreiten vielerorts in einem enormen wirtschaftlichen Kraftakt sichtbar voran – in strukturschwachen, ländlichen Gegenden jedoch eher zögerlich. Selbst sichtbare Fortschritte in diesen Regionen können nicht verhindern, dass Menschen aus wirtschaftlichen Gründen abwandern. Rutschkys Bilderzyklus vermittelt den Eindruck einer gesellschaftlichen Großbaustelle.
Brüche
Besonders hart trifft viele Ostdeutsche ihre Entlassung nach langjähriger Betriebszugehörigkeit. Der gesicherte Arbeitsplatz war fester Bestandteil der sozialistischen Gesellschaftsordnung. Um ihn spannte sich ein soziales Netz mit einem betrieblichen Angebot an Kinderbetreuung, Freizeitgestaltung, Ferieneinrichtungen und Gesundheitsversorgung. Mit der Kündigung bricht ein wichtiger Bezugspunkt weg. Nicht das erhoffte Leben im Wohlstand, sondern die Sorge um den Arbeitsplatz und eine unsichere Zukunft bestimmen plötzlich den Alltag.
Unter dem Motto „Wir sind ein Volk“ lädt die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur 2005 zu einem Plakatwettbewerb ein. Studenten künstlerischer Hochschulen sind aufgefordert, die Deutsche Einheit zu beurteilen und grafisch darzustellen. Der Dortmunder Grafikdesignstudent Florian Wilshaus weist mit seinem Baustellenmotiv auf den gewaltigen Umbauprozess hin, dem sich Deutschland seit 1989 stellt. Sein Entwurf hebt hervor, dass das vereinte Deutschland nur gemeinsam aufgebaut werden kann und es sich dabei um einen längerfristigen Prozess handelt. Die Kratzer auf dem Blech stehen für Enttäuschungen und Verletzungen, die damit einhergehen.
Mehrfacher Wechsel des Arbeitsplatzes, Arbeitslosigkeit, Umschulung oder Kurzarbeit sind Brüche in vielen Biografien der Menschen im Osten. Während die Lebensgewohnheiten der Bürger in den alten Bundesländern größtenteils unverändert bleiben, müssen sich die Ostdeutschen in nahezu allen Bereichen umstellen. Oftmals lasten sie die negativen Erfahrungen in der Arbeitswelt dem Einigungsprozess und nicht der vorangegangenen Misswirtschaft an. Trotz hoher Arbeitslosigkeit steigt der Lebensstandard. Doch bringen der Verlust vertrauter Strukturen und die Entwertung des bisherigen sozialistischen Weltbilds Enttäuschung und Orientierungslosigkeit mit sich. Hinzu kommt das Gefühl, dass die eigene Leistung nicht genügend anerkannt wird. Viele fühlen sich als „Bürger zweiter Klasse“.
Bilanz
Der irische Künstler Ruairí O’Brien fragt im Herbst 2000 nach einer Bilanz der Einheit. In Dresden lässt er Passanten aus Ost und West ihre Meinung zum Prozess des Zusammenwachsens auf 250 Glasbausteine schreiben oder zeichnen. Ein facettenreiches Meinungsbild entsteht: Freiheit und Demokratie gelten als unanfechtbare Gewinne, auch wenn die Errungenschaften der Einheit angesichts von Alltagsschwierigkeiten leicht in Vergessenheit geraten. Grundsätzlich bejaht die Mehrheit der Deutschen die Einheit. Einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach zufolge glauben 63 Prozent zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung fest an das Gelingen des Zusammenwachsens.
http://www.museumsmagazin.com/uebersicht/baustelle-deutsche-einheit/